Mittlerweile lässt sich in den Charts kaum mehr ein Song finden, der zuvor nicht auf Tiktok durchgestartet ist. Der Einfluss der Plattform auf die Musikszene wird immer grösser.
„Old Town Road“ von Lil Nas X, „abcdefu“ von Gayle und „Wellerman“ von Nathan Evans. Drei Songs, drei Genres, drei ganz verschiedene Künstler. Und doch haben sie alle etwas gemeinsam. Alle erreichten Platz eins in der Schweizer Single-Hitparade. Und alle profitierten von Tiktok.
Der Einfluss der Video-App auf die Musikbranche wird immer grösser. Rund eine Milliarde Nutzer weltweit lassen sich mittlerweile auf der Plattform von den Kurzvideos berieseln. Wildfremde Menschen, die ihre Hüften zu Songs kreisen lassen, ihre Lippen synchron zum Text ihres Lieblingssongs bewegen oder Ferienvideos mit einem passenden Soundtrack unterlegen, scheinen den Durst nach Unterhaltung zu stillen.
Vom unbekannten Interpreten an die Chart-Spitze
Musik spielt auf Tiktok eine zentrale Rolle. Und dadurch hat sich die Plattform zu einem wichtigen Player auf dem Musikmarkt entwickelt, der gegenwärtig dabei ist, die Industrie auf den Kopf zu stellen.
Wie sich das auswirken kann, lässt sich am Beispiel des Songs „abcdefu“ von Gayle aufzeigen. Am Ursprung des Erfolgs steht ein Tiktok-Video, aufgenommen im vergangenen Sommer. Die Musikerin hatte ihre Followerschaft gebeten, Ideen für neue Songs in der Kommentarspalte zu hinterlassen. Eine Nutzerin wünschte sich dabei einen Trennungs-Song, der auf dem Alphabet basiert.
Das Video, in dem Gayle den Song zum ersten Mal vorspielt, geht auf Tiktok viral. In der Kommentarspalte wünschen sich Tausende Nutzer eine Vollversion des Liedes. Der vermeintliche Ursprung des Hits „abcdefu“.
In den folgenden Wochen nutzten Tausende Tiktoker den Song in eigenen Videos, tanzten dazu, sangen den Refrain selbst nach. Das Lied erlangte weltweite Berühmtheit. Zwei Wochen lang stand der Song an der Spitze der Billboard-Charts. Seit dem 21. November ist er auch in der Schweizer Hitparade vertreten. Nun bereits seit 29 Wochen – sechs davon an oberster Stelle.
Der Song „abcdefu“ ist allerdings kein Einzelfall. Auch der Erfolg der Hits „Old Time Road“ von Lil Nas X oder „About Damn Time“ von Lizzo basiert auf der Unterhaltungsplattform.

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Grosses Potenzial für Plattenlabels
„Auf Tiktok wird Musik entdeckt“, sagt Philipp Truniger, stellvertretender Geschäftsleiter des Branchenverbands für Musiklabels IFPI Schweiz. Jeden Tag durchstöbern Tausende von Usern die Musikbibliothek der Plattform, um die passende Audio-Untermalung für ihr nächstes Video zu finden. Und diese Bibliothek hat einen beträchtlichen Umfang.
Denn Tiktok ermögliche grundsätzlich jedem, ohne grossen Aufwand ein weltweites Publikum zu erreichen, sagt Truniger. Eine Chance, die viele auch nutzen, um ihre eigene Musik in Szene zu setzen.
Dies machen sich auch Musiklabels zum Vorteil. „Tiktok wird immer relevanter, wenn es darum geht, neue Talente zu entdecken“, sagt Kamil Kostka, Head of Artists and Repertoire bei Universal Music Switzerland. Denn durch Trends lasse sich schnell erkennen, welche Musik beim Publikum gut ankomme und welche Künstler Potenzial für eine Unterzeichnung bei einem Label hätten.
Ein Beispiel: Der 27-jährige Nathan Evans arbeitete eigentlich als Postbote in Glasgow. Gelegentlich veröffentlichte er auf Tiktok Videos von sich, in denen er, begleitet von seiner Gitarre, Lieder vorträgt. So auch am 27. Dezember 2020. Mit dem, was dann passierte, dürfte auch er nicht gerechnet haben.
Neben über 20 Millionen Aufrufen, Tausenden von Nachahmern und Platz 1 in der Hitparade in zahlreichen Ländern brachte ihm das Seemannslied „Wellerman“ auch einen Plattenvertrag bei einem Sub-Label von Universal Music ein.
Mächtiges Marketinginstrument
Tiktok erwies sich nicht nur als Talentschmiede, es bietet der Musikbranche auch noch weitere Möglichkeiten. So greifen immer mehr Labels im Marketing auf Tiktok zurück.
„Wie mächtig Tiktok als Marketinginstrument ist, wurde uns spätestens bei der Kampagne zum Song ‚Bonnie&Clyde 2‘ des Zürcher Rappers EAZ bewusst“, sagt Kostka.
Bereits einen Monat vor Erscheinen des Songs lancierte Universal Music gemeinsam mit dem Künstler eine Kampagne auf Tiktok. Mit einem kurzen Ausschnitt des Songs versuchten sie eine Challenge zu lancieren.
Tausende folgten seinem Aufruf, ein eigenes Video zum Refrain hochzuladen. Die Methode zeigte Wirkung. Der Song landete in den Top Ten der Single-Charts – ein Erfolg, der laut Kostka für Schweizer Musiker nur sehr schwierig zu erreichen ist. „Und unsere Daten haben gezeigt: Der Erfolg ist hauptsächlich auf die Tiktok-Kampagne zurückzuführen.“
Seither versuche Universal Music für die Künstler bei neuen Veröffentlichungen jeweils eine individuelle Marketingkampagne zu gestalten.
Übrigens: Auch beim bereits erwähnten Entstehungsvideo des Songs „abcdefu“ handelte es sich um nicht mehr als eine geschickt inszenierte Marketingkampagne, wie sich später herausstellte. Den Kommentar, der für die Inszenierung des Songs verantwortlich sein soll, hatte eine Mitarbeiterin von Gayles Label verfasst.
Ein weiteres Beispiel, das die Effektivität von Tiktok-Marketing beweist.

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Sogar das Songwriting wird von Tiktok beeinflusst
Eine gut konzipierte Kampagne allein verspricht allerdings noch lange keinen Erfolg auf Tiktok. Ob ein Song auf der Plattform durchstarten kann oder nicht, hängt von diversen Faktoren ab.
„Im Durchschnitt nehmen sich User auf Tiktok ein bis zwei Sekunden Zeit, um zu entscheiden, ob sie das Video weiterschauen oder zum nächsten Beitrag scrollen“, sagt der Schweizer Tiktok-Experte Mike Schwede. Wolle man also mit einem Song auf der Plattform erfolgreich sein, müsse dieser bereits in kürzester Zeit einen gewissen Wiedererkennungswert schaffen. Doch auch spezielle Effekte, Melodien oder Textausschnitte, die zu bestimmten Aktionen einladen, können den Erfolg auf der Plattform befeuern.
Musiker und Labels kennen diese Faktoren. Um also einen Song möglichst erfolgreich über Tiktok in die Charts zu bringen, wird teilweise bereits in der Produktion von Songs auf Tiktok-Trends geschielt.
„In der Planung eines neuen Albums kann es da durchaus sein, dass wir mit dem Musiker besprechen, wie ein Song aufgebaut sein muss, um möglichst gut auf Tiktok zu funktionieren“, sagt Schwede.
So bauen Produzenten beispielsweise prägnante Textstellen ein, die sich gut für lippensynchrone Playback-Videos eignen, oder sie produzieren Songs mit möglichst eingängigen Melodien – alles in der Hoffnung, dass sich die Nutzer beim Erstellen ihres nächsten Videos für diesen Song entscheiden.
Sei es in den Charts, in der Talentsuche, im Marketing oder im Songwriting: Mittlerweile führt wohl in kaum einem Teil der Musikindustrie ein Weg an Tiktok vorbei.