Wie Spotify die Musik- und Festivalbranche für immer verändert

Spotify krempelt die Branche um: Statt Singles und Alben entscheiden Playlists über den Erfolg von Künstlern. Einblick in die neue Musikwelt.

Um kurz nach fünf, an einem Freitag Ende Oktober, stürmt ein kreischendes Doppeldutzend Teenager in den Saal der Neuköllner Konzerthalle „Huxleys Neue Welt“ und formiert sich als erste Reihe vor der Bühne.

Die Elftklässler eines Berliner Gymnasiums tragen Jeans mit Strass-Steinen oder „Ellesse“-Basecaps, ihre Smartphones sind selfiebereit aufs eigene Gesicht gerichtet, ihre Pappschilder mit „Meine Chaya!“ haben sie unter den Arm geklemmt – eine Referenz auf einen gemeinsamen Song der Rapper Nura und Trettmann, die beide später auf der Bühne stehen werden.

Jetzt steht da aber nur ein schwarz umkleidetes Mischpult, auf dem ein Logo leicht flackernd leuchtet: zweimal der ineinander verschränkte Buchstabe M. Das Kürzel steht für Modus Mio, den Star des Abends.

Modus Mio ist kein Rapper, keine nordische Metal-Band auch und kein samtstimmiger Singer-Songwriter. Der Name gehört einer Playlist auf der Musikstreaming-Plattform Spotify, und zwar mit 850 .000 Followern „der erfolgreichsten Hiphop-Playlist in Deutschland“, wie Maik Pallasch erklärt.

Eine Stunde vor Einlass sitzt der 43-Jährige mit dem leicht angegrauten Vollbart backstage an einem mit roter Papierserviette gedeckten Tisch in der Ecke des Essensraums. Neben Pallasch verzehren ein Rapper und seine Entourage an einer Biertischgarnitur gerade Rinderbraten und Sucuk-Wurst.

Pallasch leitet Spotifys fünfköpfige Playlist-Redaktion für deutsche Musik. Mit „Modus Mio“ bestimmt Pallaschs Team den Takt des Deutsch-Hiphops. Ob ein neuer Track auf der Playlist landet, entscheidet maßgeblich über seinen Erfolg.

Heute aber ist Pallasch zum ersten Mal Gastgeber für 1.800 Besucher. So viele, dass das Konzert sogar kurzfristig verlegt werden musste, hierher in „Huxleys Neue Welt“. Nun passt der Veranstaltungsort, auch metaphorisch. Dass Playlists zum Leben erwachen, dass eine Streaming-Plattform wie Spotify Konzerte veranstaltet, ist für die Musikindustrie in der Tat eine völlig neue Welt.

Foto: © Alliance | Adobe Stock

Schöne, neue Musikwelt?

Aber ist diese neue Welt wirklich schön oder, wie in Aldous Huxleys Roman, ein dystopischer Alptraum? Werden demnächst neben der Musik- auch die Konzert- und Festivalbranche von Algorithmen gesteuert, die Auftritte genau auf die Wünsche einer digital definierten Zielgruppe ausrichten?

Seit es Spotify, Apple Music und andere Musik-Streamingdienste gibt, wird unter Musikern, Label-Managern und Fans diskutiert, ob die Plattformen die Musikbranche retten oder endgültig ruinieren. Anfang der 2000er war die Musikindustrie eine der ersten, die durch Piraterie-Seiten wie Napster gewaltsam digitalisiert worden war.

Um 2008 überzeugte Spotify-Gründer Daniel Ek dann die großen Musik-Labels, ihm ihre Kataloge von den Rolling Stones bis Katy Perry zur Verfügung zu stellen. Die Branche setzte fortan auf eine Zukunft, in der Musikhörer für eine monatliche Flatrate jederzeit nahezu jeden Song hören können statt sich einzelne Alben im Plattenladen oder einzelne Songs auf Apples iTunes zu kaufen.

Weil Spotify Musikern pro Stream nur den Bruchteil eines Cents an Tantiemen zahlte, war die Plattform schnell der Lieblingsfeind vieler Künstler. Stars wie Taylor Swift hielten ihre Musik von Spotify fern. Inzwischen wächst dank Streaming seit einigen Jahren der globale Umsatz der Musikbranche wieder. 2017 verdienten Musik-Labels mit Streaming erstmals mehr als mit dem Verkauf von CDs und Vinyl, 2018 war es bereits fast doppelt so viel. Taylor Swift findet man längst wieder auf Spotify.

Abgerissen ist die Kritik trotzdem nicht, sie klingt heute nur anders: „Bei Spotify hast du nur noch Daten, nur noch Algorithmen, Einsen und Nullen“, sagte Bela B., Schlagzeuger der „Ärzte“, im Dezember der „Zeit“. „Irgendwie seelenlos“ findet der Punkrocker das.

Maik Pallasch sieht die Sache naturgemäß anders: „Wir wollen ein emotionales Erlebnis für Fans und Künstler schaffen“, sagt er, während der Bass vom Soundcheck von Nura rüberwummert. Aber es stimmt schon: Spotify weiß wesentlich genauer als klassische Konzertveranstalter, welche Fans wo welche Songs hören – und kann Konzerte auf seiner Playlist zwischen zwei Songs bewerben.

„Die fünf Künstler, die wir heute auf der Bühne haben, haben auch in der Playlist Modus Mio in den letzten Monaten extrem gut funktioniert“, sagt Pallasch. Darunter sind etablierte Stars des Deutsch-Hiphops wie der Leipziger Rapper Trettmann, aber auch relative Newcomer wie Luciano, der das Konzert eröffnet und erst in den Wochen danach mehrere Singles in die Top-10 der Charts bringen wird.

Über Erfolg wird schon früh entschieden

„Wir können schon sehr früh identifizieren, welche Künstler in den nächsten Monaten erfolgreich sein werden“, sagt Pallasch, der 2017 vom Bertelsmann-Label BMG zu Spotify wechselte. „Bei Luciano haben wir schon sehr früh das Booking gemacht. Damals war er noch nicht an dem Punkt, an dem er heute ist.“ Und am nächsten Tag kommt „Modus Mio“ noch einmal auf die Bühne, dann in Dortmund.

Im Ruhrgebiet, weiß Pallasch, leben mehr Fans der Playlist als etwa in Hamburg oder München. Bei zukünftigen Veranstaltungen sei sogar denkbar, auf den Konzerten unterschiedliche Künstler je nach lokaler Popularität zu buchen. Oder ihnen eine aufs Publikum zugeschneiderte Setlist vorzuschlagen. So viel ist sicher: Spotify will seine Bühnenshows 2019 fortsetzen.

Als neues Geschäftsmodell für Spotify seien die Mini-Festivals aber „bisher nicht geplant“, sagt Pallasch. Schließlich seien sie für das kleine Berliner Spotify-Team ein großer Aufwand. Mit dem Eintrittsgeld kommt das Unternehmen bisher auch nur etwa auf Null raus.

Das muss nicht so bleiben. Spotify ist ein Jahr nach seinem Börsengang rund 23 Milliarden Euro wert, aber immer noch nicht profitabel. Der Streaming-Pionier muss rund die Hälfte seiner Einnahmen an die Labels abgeben und kommt auf eine im Vergleich mit anderen Plattformunternehmen recht miese Bruttomarge von rund 21 Prozent. Will Spotify seinen Börsenwert rechtfertigen, braucht es lukrativere Geschäftsfelder.

Seit vergangenem Jahr schließt Spotify Lizenzdeals mit einigen Künstlern ohne Plattenvertrag und umgeht so die Labels. Eine offene Konfrontation mit Universal und Co. wäre aber riskant. Nicht nur sind die großen Labels Anteilseigner an Spotify, sie können die Lizenzdeals mit der Plattform auch auslaufen lassen. Eine Alternative sind für Spotify eigene Live-Veranstaltungen. Live Nation, der weltgrößte Konzert- und Festivalveranstalter, hatte 2018 sein achtes Rekordjahr in Folge – bei 9,6 Milliarden Euro Umsatz machte das Unternehmen aus Beverly Hills knapp 800 Millionen Euro Gewinn.

André Lieberberg | Foto: imago/Manngold

Hypothesen statt Bauchgefühl

Eine weiße Villa im feinen Frankfurter Stadtteil Dornbusch. In der Lobby hängen Schallplatten: Einige goldene für Xavier Naidoos Debütalbum „Nicht von dieser Welt“, mehrere in Platin für Herbert Grönemeyers „Mensch“. Und eine Montage des bunten „Sgt. Pepper‘s Lonely Hearts Club Band“-Covers der Beatles. John, Paul, George und Ringo haben alle den Kopf von Marek Lieberberg.

Das ist gar nicht mal so übertrieben, der Name Lieberberg ist der Donnerhall in der deutschen Livemusik-Szene. Der heute 72-Jährige hat Deutschland-Touren von The Who, den Guns N’ Roses und Bruce Springsteen organisiert und die Festivals „Rock im Park“ und „Rock am Ring“ erfunden. Heute organisiert vor allem sein Sohn André Live Nations das Deutschland-Geschäft, darunter auch die beiden Mega-Festivals in Nürnberg und am Nürburgring.

Als André Lieberberg in sein Arbeitszimmer bittet, weist er erst mal auf das Plakat hin, das über seinem Sofa hängt. Darauf der Kopf von Jimi Hendrix, aus dem farbige E-Gitarrenkabel wachsen. Am 23. Januar 1969 fand dieses Konzert statt, Berliner Sportpalast, Karten ab DM 5.-.

Ein Kunstwerk aus einer vergangenen Zeit. Heute erlebt der 42-jährige Lieberberg eine „Omnipräsenz“ der Streamingdienste in seinem Geschäft. Gerade bei Rap- und Popmusik, den bei jungen Menschen dominanten Genres, seien sie entscheidend in der Analyse von Tourneen neuer Künstler. „Insbesondere, weil diese Informationen in Echtzeit zu Verfügung stehen. Im Austausch mit unseren Projektleitern ist die erste Frage oftmals: Wie sind die Streamingzahlen?“ Auf die meisten Spotify-Daten hat Lieberberg bei der Tourplanung aber nur über das Management der Künstler Zugriff und auch nur auf jene Daten, die Spotify über seine „For Artists“-Plattform verfügbar macht.

Einen sehr viel tieferen Einblick in diese Daten kann man in Berlin-Mitte bekommen. Spotify hat sich dort in einen Coworking-Space eingemietet. Maik Pallasch will zeigen, wie seine Musikredakteure an den Playlisten arbeiten, die mehr und mehr über Erfolg und Misserfolg in der Musikbranche bestimmen.

Es ist Mitte Februar, „Modus Mio“ hat inzwischen 950.000 Follower. Wo früher das Bauchgefühl eines Produzenten über die Auswahl der Songs oder ihrer Reihenfolge auf einem Album entschied, steht heute Publish 2.0.

So heißt die Software, anhand derer die Redakteure ihre Hypothesen über die Hörerwünsche testen können: Wie viele Leute sie täglich hören („Daily Active Users“), wie oft ein Song angehört wird („Plays“), wie viele innerhalb von 30 Sekunden zu anderen Songs springen („Skip Rates“), wie viele den Song in einer ihrer persönlichen Playlists speichern („Saves“), die durchschnittliche Durchhör-Rate („Average Completion Rate“) und durchschnittliche Spielzeit der Playlist („Average Playtime“).

„Wenn die Spielzeit dramatisch runtergeht, kann das ein Indiz dafür sein, dass wir die Hypothese gerade nicht richtig treffen“, sagt Pallasch. Der Redakteur analysiert dann: Liegt es an einem einzelnen Song, der die Hörer stört? Müssen alle Songs raus, die älter als vier Wochen sind?

Algorithmen sorgen für Veränderung

Um auf „Modus Mio“ zu kommen, können sich Songs über andere, kleinere Playlisten wie „Deutschrap Brandneu“ qualifizieren. „Seelenlos“ sei das alles nicht, findet Pallasch. Es gebe auch Songs, die der Redakteur sofort in „Modus Mio“ packt. Neuheit sei ein wichtiges Kriterium und die Bekanntheit des Künstlers.

Oder der Redakteur ist einfach von der Qualität des Songs überzeugt. Anders als rein algorithmisch erstellte Playlists wie den individuellen „Mix der Woche“, der sich nach dem Hörverhalten des einzelnen Nutzers richte, entscheide bei redaktionellen Listen wie „Modus Mio“ am Ende der Mensch.

Trotzdem scheinen die Algorithmen die Musik und ihre Medien zu verändern. So werden die Songs insgesamt kürzer: Die US-Nachrichtenseite Quartz rechnete aus, dass der durchschnittliche Song in den „Billboard Hot 100“-Charts seit 2013 um 20 Sekunden kürzer geworden ist, im Schnitt ist er heute nur noch dreieinhalb Minuten lang. Für eine niedrige Skip-Rate müssen Songs ihre Hörer in den ersten 30 Sekunden an sich fesseln – und Musiker scheinen sich daran anzupassen: Der Musikwissenschaftler Hubert Léveillé Gauvin von der Ohio State University fand heraus, dass das durchschnittliche Intro eines Top-Ten-Hits in den 30 Jahren bis 2015 von 20 auf fünf Sekunden sank.

Um das mit der Ahnengalerie im Hause Lieberberg zu vergleichen: Den Titelsong von „Sgt. Pepper“ mit Rauschen und übenden Streichern zu beginnen oder mit einem 33-sekündigen Intro wie Jimi Hendrix bei „Purple Haze“ sollte man sich heute gut überlegen. Der Hiphop setzt hier die Trends: Mit „Cherry Lady“, 2:16 Minuten lang und acht Sekunden Intro bis zum Gesang, hat der Rapper Capital Bra in dieser Woche zum zwölften Mal die Single-Charts getoppt und so einen Uralt-Rekord der Beatles gebrochen.

Noch stärker als die einzelnen Songs wird Spotify aber das Album als Format verändern. Schließlich stehen die Songs in einer Playlist für sich, statt Albumverkäufe sind Streams die relevante Währung. Sich jahrelang in einem Studio zu verschanzen, um an einem Album zu arbeiten, ergibt da immer weniger Sinn.

„Die Playlist ersetzt das Album“

Sebastian Schweizer wundert sich heute, wie viel Aufmerksamkeit er bekam, als er das im vergangenen Juni mal aussprach. Der Chef des Hiphop-Labels Chimperator hat viele Alben produziert, darunter die drei Nummer-1-Alben des Pop-Rappers Cro („Easy“). Künftig will er bei jedem Künstler neu entscheiden, ob am Ende der Produktion überhaupt noch ein Album stehen soll.

„Jüngere Leuten hören Musik in Singles, dann richten wir uns eben danach“, sagt er. Früher sei ein Release nach einem klaren Plan abgelaufen, erste Single, oft noch eine zweite Single, Album, Tour. Bei dem R&B-Rapper Teesy habe er erst mal fünf Singles und zwei Remixes veröffentlicht, „um immer wieder neue Aufmerksamkeit draufzukriegen.“ Erst dann habe man das, was an Musik da war, auf einem Album mit 13 Tracks gesammelt.

Schweizers Label sitzt in einem Jugendstilgebäude am Spreeufer in Kreuzberg. „Hier war in den 90er Jahren MTV drin“, erzählt er ganz nebenbei. Der Musiksender, der im CD-Zeitalter Trends schuf und Karrieren bestimmte, und im Streaming-Zeitalter in der Bedeutungslosigkeit verschwand. Bei einem seiner neueren Künstler überlegt Schweizer, demnächst gar keine CD mehr rauszubringen, nur noch eine Vinylbox für die Hardcore-Fans. „Ich finde, die Playlist ersetzt das Album. Wir kennen das noch, eine CD auspacken, Booklet durchblättern“, sagt der Produzent. „Aber das ist Nostalgie.“ Es habe auch etwas Befreiendes, einen Song zu veröffentlichen, wenn er fertig ist, nicht erst wenn das Album rauskommt.

Trotzdem hadert Schweizer mit manchen Aspekten der neuen Playlist-Welt: „Wenn ein Musiker in die „Modus Mio“-Playlist will, fängt er an, Songs zu schreiben, die wie das klingen, was da schon drin ist“, fürchtet er. So könnte die Durchhörbarkeit der Playlist, die Spotifys Redakteure anstreben, zum Gleichmacher aller Musik mutieren. Für Schweizer, der vor allem Musiker an der Grenze von Rap und Pop – „Raop“ genannt – oder R&B produziert, ist das besonders schwierig.

Maik Pallasch

Der Modus des Mainstream

Bevor der Rapper Tua kürzlich sein neues Album bei Chimperator veröffentlichte, setzten sich Schweizer und der Künstler vor Spotify und überlegten, in welche Playlist seine Songs passen könnten: „Für Tua war das ein Schockmoment“, erzählt Schweizer. In die reinen Rap-Playlisten schien er nicht zu passen, in die für Pop auch nicht. „Den Sound zu verändern, wäre aber völliger Quatsch gewesen“, sagt Schweizer. Als das Album am 22. März erschien, platzierte Spotify einen Tua-Song in der „Deutschpop“-Liste (340.000 Follower) und einen in „Modus Mio“, die nun mehr als eine Million Follower hat. Das Album steht nun auf Platz 6 der Charts.

Schweizer denkt über den Einfluss der Streamingdienste nach, aber diktieren will er sich nichts lassen. „In unserer Label-Historie haben wir immer eher antizyklisch releast“, sagt er. Als Chimperator 2012 das erste Cro-Album veröffentlichte, sei „das ganze Aggro-Ding“, der vom Label Aggro Berlin (Sido, Bushido) beeinflusste, sich um Gewalt, Sex und Kriminalität drehende Hiphop auf seinem kulturellen Höhepunkt gewesen. „Erfolgreich wirst du nicht, wenn du mitschwimmst“, sagt Schweizer.

Auch für André Lieberberg ist „Kulturpessimismus nicht der richtige Ansatz“. Wie die Künstler genießt auch er die neue Freiheit. Früher musste die Tour sechs bis acht Monate nach der Veröffentlichung des Albums beginnen, damit dessen Marketingeffekt zur Entfaltung kam. Heute sei das anders: „Beim Konzipieren einer Tournee geht es häufig nur um die Frage, wann neue Songs veröffentlicht werden, unabhängig davon, ob ein komplettes Album erscheinen wird“, sagt Lieberberg.

Veröffentlicht von

Der Account der Online-Redaktion von Musiker Online, dem Musiker Magazin und dem DRMV.