Die Musikindustrie sucht nicht nur nach dem nächsten Popstar – sondern nach dem nächsten TikTok-Star. TikTok ist mittlerweile einer der wichtigsten Orte, an denen Musik entdeckt wird. Deshalb werden sogar Songs extra für die Plattform optimiert.
Olivia Rodrigo ist der Popstar des Moments. Die 18-jährige Sängerin aus Kalifornien wurde 2021 die jüngste Person aller Zeiten, die es von 0 auf 1 an die Spitze der US-amerikanischen Single-Charts schaffte, und brach weltweit Chart- und Stream-Rekorde. Rodrigo ist „ein neues Pop-Queen-Musterbeispiel“, und das sagt nicht irgendwer, sondern das legendäre Musikmagazin Rolling Stone. Und all das wäre wohl nichts geworden – wenn es TikTok nicht gegeben hätte.
TikToks Rolle für die Musikindustrie
Olivia Rodrigo ist nicht das erste Beispiel für eine Künstlerin, deren Musik vor allem durch die Video-App TikTok bekannt wird. 2019 schaffte es „Old Town Road“ des damals vollkommen unbekannten Rappers Lil Nas X an die Spitze der Charts – nach oben getragen von einem viralen TikTok-Tanz, der auf dem Song basierte.
Durch seine enorme Popularität (weltweit nutzen hunderte Millionen Menschen regelmäßig TikTok) ist die App zu einer der wichtigsten Methoden geworden, um neue Musik zu entdecken. Dabei können neue Popstars wie Olivia Rodrigo entstehen, aber auch Indie-Künstlerinnen wie die Amerikanerin Ashnikko und die Deutsche Lune konnten sich durch Erfolg auf TikTok einen Namen machen.
Für die Musikindustrie ist TikTok ein umkämpftes Gebiet. Jeder versucht, den nächsten viralen Hit zu landen. Doch der nächste virale Hit lässt sich nur schwer steuern – und ist oft unberechenbar. So sorgte ein einziges virales TikTok-Video 2020 dafür, dass der Song „Dreams“ von Fleetwood Mac aus dem Jahr 1977 von einer jüngeren Generation erstmals entdeckt wurde, und weltweit nach Jahrzehnten wieder in die Charts einstieg.
Kann man einen TikTok-Hit erzwingen?
Dass virale TikTok-Erfolge schwer vorherzusagen, hindert Musiker und Musikindustrie jedoch nicht daran, neue Popmusik oft genau auf die Spielregeln der Plattform auszurichten. Ein ähnliches Phänomen gibt es bereits seit einigen Jahren im Musikstreaming: Weil Plattformen wie Spotify erst Geld an die Rechteinhaber von Musik auszahlen, wenn ein Song länger als 30 Sekunden gehört wird, werden Popsongs immer kürzer – und Intros gibt es fast gar nicht mehr. Dann hört das Publikum den Song vielleicht öfter, und skippt nicht so schnell zum nächsten Track.
Auch auf TikTok versprechen manche Strategien schnelleren Erfolg aus andere: Weil die Videos so kurz sind, konzentrieren sich Songwriter mittlerweile manchmal darauf, besonders prägnante 15-Sekunden-Ausschnitte zu produzieren, die gut in einen TikTok-Clip passen. Das sagt auch Popstar Olivia Rodrigo: In einem Interview mit der New York Times erklärte sie, dass sie eine Piano-Überleitung in ihrem Song „Drivers License“ mit einer möglichen TikTok-Umsetzung im Kopf geschrieben hatte.
Aber auch Popstars, die schon länger im Geschäft sind, kalkulieren TikTok mittlerweile mit. Der Song „Toosie Slide“ von Drake schaffte es letztes Jahr ganz ohne prägnanten Refrain oder klassische Songstruktur in die Charts – stattdessen mit einer TikTok-Tanz-Challenge.
Von TikTok in die Charts?
Die Musikindustrie nutzt aber nicht nur TikTok für ihre Zwecke – sie rekrutiert auch neue Gesichter direkt von der Plattform. Influencerinnen wie Bella Poarch, Addison Rae und Dixie D’Amelio wurden auf TikTok vor allem mit Tanz-Videos berühmt. Jetzt singen sie auch, unterstützt von teuren Musikvideo-Produktionen. Früher entstanden neue Popstars in Castingshows, heute passiert das in den sozialen Medien.
Vielleicht ist ja sogar der 26-jährige Schotte Nathan Evans der nächste große Popstar? Immerhin hat er bereits einen Vertrag über drei Alben mit dem Universal-Label Polydor unterschrieben. Der Grund? Sein Cover des Seemannslieds „Wellerman“, das Anfang des Jahres erst TikTok und dann die Charts stürmte.
Wie lange können sich TikTok-Stars halten?
Offen bleibt die Frage, ob aus dem schnellen Erfolg mit TikTok auch ein langlebiger werden kann. TikTok ist nicht nur eine Plattform, in der man mit oberflächlichen Inhalten schnell berühmt werden kann, sondern auch eine, in der Videos sehr kurz sind und dann sofort das nächste kommt. Und das macht die Sängerinnen und Sänger austauschbar.
Olivia Rodrigos Erfolg könnte von Dauer sein – dafür sorgen ihre Musik und ihre Beliebtheit bei Kritikern und Publikum gleichermaßen. Aber ob das Debütalbum von Wellerman-Sänger Nathan Evans wohl ähnlich begeistert aufgenommen wird, wenn es irgendwann erscheint? Ein virales Meme ist vielleicht doch einfach nur ein Meme, und so schnell wieder fort, wie es gekommen ist.
Quelle: www.br.de | Text: Gregor Schmalzried | Fotos: © Proxima Studio/AdobeStock; © Universal Music